Jeden Morgen wieder. Im Winter dunkel. Kalt. Das Frühstück schmeckt nicht, noch dazu findet es unter Zeitdruck statt, weil das Aufstehen knapp nach 6 Uhr morgens so schwer fällt. Schwer ist auch die Tasche, in der die Arbeitsmaterialien für den Tag drinnen sind, weit über 10 Kilo in Büchern und Heften verpacktes Wissen. Dazu die Jause und eine Trinkflasche. Die Haltung, schon vorher leicht gebückt, noch ein wenig gekrümmter als er knapp vor 7 aus dem Haus schleicht. Eine Junge eben, meinen seine Eltern, vorpubertär, also eigentlich nicht schulkompatibel. Da müssen wir durch. Schulbus um 7.02, nach neunzehn Minuten ist er in der Stadt, wo es um 7.45 Uhr losgeht, fünf oder sechs Stunden lang, montags sogar acht wegen Mathe-Fördern. Heimkehr dann meist gegen 14 Uhr, am Montag erst um 16 Uhr. Das Mittagessen schon kalt. Der Hunger nicht mehr vorhanden. Glücklicherweise haben die KollegInnen immer etwas Süßes oder Salziges mit, damit das Leben ein wenig fröhlicher wird. Glücklicherweise rennt auch ein guter Schmäh, damit die Tage nicht so düster sind. Glücklicherweise gibt es auch die eine oder den anderen Lehrende/n, die/den man gut verarschen kann. Unbewusste Auflehnung gegen ein System, das niederdrückt, dem man auf diese Weise ein bisschen etwas zurückgeben kann von seiner Entmenschlichung.
Der Nachmittag, eigentlich voll mit Hausübungen, Prüfungs- und Schularbeitsvorbereitungen führt in die Welten von Musik und Survivor Dogs. Die mahnenden Worte der Eltern: Noch einmal abgeblockt, noch einmal den Ärger verschoben. Und: Vielleicht ist das Glück doch auf seiner Seite und es geht sich die Vier aus, die das Mindestmaß ist. Mehr muss es nicht sein, sagt die Mutter. Es darf schon ein bisserl mehr sein, der Vater. Ab und zu gelingt es auch, die Zeit in der Stadt zu verlängern, im Jugendtreff, wo man auch Hausübungen machen kann, aber nicht muss. Wo man aber eine ganze Menge Möglichkeiten hat, sich vom Leben abzulenken, von diesem Leben aus Pflicht und Takt und Interesselosigkeit. Kein Platz für ihn. Aber so ist das eben, sagen die Eltern, auch wir haben Pflichten, auch wir dürfen nicht tun und lassen, was wir wollen. Dafür gibt’s die Wochenenden, dafür gibt’s Urlaub, dafür gibt’s die Pension. Wenn wir sie noch erleben, so der Vater manchmal sarkastisch, dann, wenn er das eine Glas zu viel getrunken hat am Wochenende. Und wenn wir es uns leisten können, nicht mehr zu arbeiten. Mutter spielt Lotto. Vater zockt manchmal im Wettcafé. Nur kleine Beträge. Aber die summieren sich auch. Davon hätten wir uns schon das neue Sofa kaufen können, so die Mutter. Und der Vater: Aber wenn ich einmal gewinne, können wir uns ein Haus kaufen mit allem Drum und Dran. Eine Welt der Pflichten entrechtet die Menschen, nimmt ihnen jedes Recht, führt sie weg vom Menschsein. Eine Welt der Rechte hingegen, verpflichtet die Menschen, um ihre Rechte erhalten zu können. Nur das ist der Weg. Doch die allgemeine Schulpflicht wurde nicht dazu gemacht, um allen Bildung zu ermöglichen. Sie ist kein Recht. Sie ist das jede/n verpflichtende Machtinstrument der Herrschenden, sich ihre Diener, ja ihre Sklaven zurecht zu modeln. Alle „gestüm“ (Zitat: Puh, der Bär, Tigger is unbounced) zu machen. Und für ihre Sache zu verwenden, am Arbeitsmarkt, beim Konsum, bis hin zum Krieg. Wenn wir aber nicht mehr mitspielten, dann … … dann sind wir draußen, fallen aus allen Sicherheiten, … dann sind wir dem Freiheitswahn auf den Leim gegangen, … dann sind wir kein Teil der Gesellschaft mehr, ja fast Staatsverweigerer. Doch wenn wir wirklich nicht mehr mitmachten, dann … … dann könnten wir in Freiheit dem nachgehen, was uns wirklich interessiert und damit alle, die in dieser Gemeinschaft leben voneinander profitieren, … dann könnten wir wirklich eigenverantwortlich, kreativ und lösungsorientiert die Gegenwart erfahren und eine lebenswerte Zukunft schaffen, … dann könnten wir gesund und furchtlos unseren Lebensaufgaben folgen und somit erfolgreiche Menschen sein. Der Junge träumt manchmal nachts von einem Leben, das ihm völlig fremd ist, von Wolken, auf denen er liegt, von Wassern, auf denen er geht, von Himmeln, in denen sein Dasein leicht und lebendig ist. Oft wacht er dann schweißgebadet auf und ist froh wieder den guten alten Boden unter den Füßen zu haben und die Sicherheit, mit denen er täglich erfährt: So ist es eben, das Leben. https://karjalainen-draeger.weebly.com/tagebuch/-0618-ent-menschlichung
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Michael Karjalainen-Dräger
diplomierter Pädagoge und Bachelor of Education war 10 Jahre im öffentlichen Schulwesen in Wien als Lehrer tätig, danach 3 Jahre lang Leiter einer von ihm gegründeten "freien" Schule in Niederösterreich. Seit 2013 trainiert er Menschen, die jungen Menschen freie Bildungs-Räume öffnen wollen. Kategorien
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November 2019
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