Schon seit geraumer Zeit wird der Ruf nach ganztägigen Bildungseinrichtungen immer lauter. Zum einen fehlen österreichweit gesehen jede Menge Kindergartenplätze für Kinder unter drei Jahren, die aber wichtig wären, damit die Heranwachsenden einen guten Start ins Schulleben hätten, zum anderen sagt man uns, dass SchülerInnen in Ganztagsschulen besser und effizienter lernen würden. Vor allem letzteres bestreiten sogar BildungswissenschafterInnen.
Die Hintergründe aber sind aus meiner Sicht andere, als die öffentlich kolportierten. In erster Linie geht es um die Notwendigkeit der Erwerbsarbeit, um existieren zu dürfen. Heute ist es wichtiger denn je, dass jeder erwachsene Mensch einer solchen nachgeht, weil es sonst – und gerade, wenn man Kinder hat – selbst mit dem Überleben schwierig wird, geschweige denn mit dem Leben. Daher müssen die Kinder dran glauben und zum einen ihre Eltern durch Abwesenheit von zuhause unterstützen sowie zum anderen um auf eben eine solche Form des Lebens vorbereitet zu werden. Michael Ende schildert eine solche Gesellschaft in seinem Märchenroman „Momo“, der schon in den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts die Misere prophetisch vorausahnte. Kinder werden, seiner Erzählung nach, in Kinderdepots untergebracht, um den Eltern beim Zeitsparen zu helfen. Bloß die Zeit, die hier durch Automation, Modernisierung und vor allem Beschleunigung allen Lebens eingespart wird, kommt nicht den Betroffenen zu Gute. Dahinter stecken die Grauen Herren, eine höchst institutionalisierte Gruppe von Männern, die die Stundenblumen der Menschen für ihr eigenes Leben brauchen. Sie verrauchen sie ganz einfach, um selbst existieren zu können. Noch nie wurde der Mythos, dass Zeit Geld ist, auf g’scheitere Weise enttarnt. Bei so vielen Entscheidungen, die zuletzt im Bildungsbereich getroffen wurden, steigen diese Bilder aus Momo in mir auf. Aus meiner Wahrnehmung geht es nämlich bei all dem gar nicht um die jungen Menschen, die noch dazu als Kinder versachlicht (das Kind) und als unfertig und damit höchst entwicklungsbedürftig eingestuft werden. Es geht vielmehr um den oben beschriebenen gesellschaftlichen Konsens, bestmöglich funktionieren zu lernen, den keiner mehr in Frage stellt. Dieser wird als alternativlos dargestellt und auch von den meisten so gesehen. Wer tatsächlich an die Bildung – und das bitte im Humboldtschen Sinn – glaubt, der wird sich dieser Sichtweise nicht anschließen können. Wer weiß, dass ein jeder Mensch von Geburt an wissbegierig, neugierig und bildungshungrig ist, um das zu erfahren, was er zum Leben braucht, muss laut aufschreien und andere Wege beschreiten. Elementare und indigene Kulturen bieten den Heranwachsenden die Fülle des jeweiligen Lebens von Anfang an. Die jungen Menschen lernen auf diese Weise genau das, was sie später können müssen, um zu leben. Dazu gibt es zwar MentorInnen außerhalb des eigenen Zuhauses, aber keine Institutionen wie Kindergarten oder Schule, die vorgeben, was wann zu wissen und zu können ist. Diese Haltung gilt in meiner Vision einer lebenslangen Bildung auch in unserer Kultur als Grundlage. Ich, der ich vor knapp zwei Jahren noch an die „bessere Schule“ glaubte, durfte mich vom Leben belehren lassen. Ich habe einen anderen Blick auf diese junge Menschen bekommen, ich habe erfasst, welches Potential in jeder und jedem von ihnen steckt und wie sie ganz individuell, interessensorientiert und Schritt für Schritt ihren eigenen Bildungsweg zu gehen in der Lage sind. Was sie wirklich brauchen, sind Menschen, die sie, wenn sie Fragen haben, dabei begleiten bzw. sie mit Wissenden und Erfahrenen vernetzen. Die so genannten Kulturtechniken (Schreiben, Lesen, Rechnen) werden auf diesem Weg implizit gelernt – und zwar in dem Umfang, in dem es für den Sich-Bildenden notwendig und sinnvoll ist. Nicht jedeR muss Differntialgleichungen lösen können, aber jedeR wird die Grundrechnungsarten beherrschen. Nicht jedeR muss eine Erörterung schreiben können, aber jedeR wird schriftlich und mündlich für seine Meinung einstehen können. Nicht jedeR muss Joyce’s Ulysses im Original lesen können, aber jedeR wird um die Wichtigkeit schriftlicher Informationen und um die Stärke und den Nutzen literarischer Texte wissen. Dazu braucht es die Erwachsenen, die ihren Nachwuchs ernst nehmen und erkennen, welcher Bildungsweg der sinnvollste und damit beste ist. Die Schule, wie wir sie heute kennen, mag für die eine oder den anderen nach wie vor die richtige Entscheidung sein. Es braucht aber auch die Ermöglichung anderer Bildungsweisen, fernab der derzeit vorgegebenen Bahnen. Die, die trotz derzeit anders lautender gesetzlicher Regelungen, den jungen Menschen schon heute diesen Weg ermöglichen – auch im Leben mit dem Widerstand der Gesellschaft und der staatlichen Institutionen – sind die PionierInnen der Bildungszukunft. Sie werden einst erinnert werden wie Olympe de Gouges, Mary Wollstonecraft oder Minna Canth für die Frauenrechte sowie Otto Lilienthal und die Gebrüder Wright fürs Fliegen. Sie seien hier explizit ermutigt, ihnen sei an dieser Stelle ausdrücklich gedankt!
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Michael Karjalainen-Dräger
diplomierter Pädagoge und Bachelor of Education war 10 Jahre im öffentlichen Schulwesen in Wien als Lehrer tätig, danach 3 Jahre lang Leiter einer von ihm gegründeten "freien" Schule in Niederösterreich. Seit 2013 trainiert er Menschen, die jungen Menschen freie Bildungs-Räume öffnen wollen. Kategorien
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March 2020
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