Krampfhaft versuchen derzeit PolitikerInnen und für das Bildungssystem Verantwortliche die gefährliche Eskalation an Wiener Schulen, wie bei jenem aktuellen Vorfall an einer HTL in der Stadt, der ja nur die Spitze eines stetig wachsenden Eisbergs ist, in den Griff zu bekommen. Bloß die Mittel sind die falschen. Die einen wollen den Eltern gewalttätiger SchülerInnen die Familienbeihilfe kürzen, die anderen setzen auf Teambuilding und Ausbildung der Unterrichtenden in Konfliktmanagement, wieder andere fordern mehr Mittel für Schulpsychologie und -sozialarbeit. Als ob es das alles nicht ohnehin schon zur Genüge gäbe.
Das Grundproblem aber wird weder erkannt noch bei der Erarbeitung von Lösungsansätzen entsprechend berücksichtigt. SchülerInnen weisen schon seit Jahren quasi mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf die Thematik hin. Die einen erkranken physisch oder psychisch, ziehen sich zurück und verweigern auf diese Weise den weiteren Schulbesuch. Die anderen randalieren mit zunehmender Aggressivität direkt vor Ort und gefährden ihre MitschülerInnen und die Lehrenden. Sie alle sind aus meiner Sicht SymptomträgerInnen eines todkranken Schulsystems, manche von ihnen auch solche eines zum Sterben verurteilten Gesellschaftssystems. Noch dazu sind davon ja nicht nur SchülerInnen sondern auch LehrerInnen und Eltern zutiefst betroffen, siehe eine aktuelle Studie der der PH NÖ und der Uni Wien. Lösungsansätze lassen sich nicht auf derselben Bewusstseinsebene finden, auf der die Probleme entstanden sind („Problems cannot be solced at the same level of awareness that created them“, Einstein zugeschrieben) und das Schulsystem reproduziert seit vielen Generationen, ja seit seiner Entstehung nur diese eine Bewusstseinsebene. Wir sollten daher die SymptomträgerInnen nicht weiterhin bloß kriminalisieren, psychologisieren oder pathologisieren, sondern ihre Botschaft ernst nehmen. Und die lautet beim genauen Hinhören eindeutig: Keine solche Schule mehr. Wer sich mit Lerntheorie, Gehirnforschung, Entwicklungspsychologie und Erziehungswissenschaft beschäftigt, wird erkennen, dass Menschen lernbereite Wesen sind, die praktisch immer lernen. Diesen Prozess möchte ich als natürliches Lernen bezeichnen. Es ist immer selbstbestimmt und interessengeleitet und wurzelt mitten im Leben. Das schulische Lernen hingegen ist ein aufgesetztes Lernen quasi im Labor, das einem von außen gesteuerten Curriculum folgt. Einem Menschen, der so lernen muss, intrinsische Motivation abzuverlangen ist schlicht und einfach nicht möglich. Daher sollten die Bildungsverantwortlichen die SymptomträgerInnen des kranken Schul- bzw. Bildungssystems endlich ernst nehmen und den Menschen in den Mittelpunkt des Bildungsgeschehens stellen und ihm individuelle, selbstbestimmte und von der öffentlichen Hand finanzierte Bildungswege ermöglichen. Dazu braucht es auch Orte, die dem Begriff Schule (vom griech. scholae, Muße) gerecht werden. Ob sie dann noch Schule heißen können, wage ich zu bezweifeln. Ich spräche viel lieber von Bildungsräumen, wie es die Hauptbibliothek in Helsinki vorlebt. Dazu braucht es auch Menschen, die den Bildungshungrigen mit ihrer Fachkompetenz sowie mit Rat und Tat zur Verfügung stehen. Lehrer allerdings sollten sie nicht mehr genannt werden. Immerhin gibt es ein Gerücht, dass das Schulsystem im Bildungsministerium bereits als kindeswohlgefährdend angesehen wird, wenn auch nur hinter vorgehaltener Hand. Ein erster Schritt in die richtige Richtung, meine ich, auch wenn diese Aussage möglicherweise nur gut erfunden ist.
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Michael Karjalainen-Dräger
diplomierter Pädagoge und Bachelor of Education war 10 Jahre im öffentlichen Schulwesen in Wien als Lehrer tätig, danach 3 Jahre lang Leiter einer von ihm gegründeten "freien" Schule in Niederösterreich. Seit 2013 trainiert er Menschen, die jungen Menschen freie Bildungs-Räume öffnen wollen. Kategorien
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March 2020
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