Dieser Tage wurde den SchülerInnen einer Klasse an einer Wiener AHS vom Klassenvorstand ein an die Eltern adressiertes Kuvert übermittelt. Darin befand sich der Werbefolder eines Nachhilfeinstituts. Dieser kam gerade rechtzeitig vor den ersten Schularbeiten. Anzunehmen ist, dass diese Werbebotschaft an der Schule flächendeckend verteilt wurde, anzunehmen ist weiters, dass dies nicht die einzige Wiener AHS war, in der das passierte.
Das Gymnasium und die Nachhilfe sind immer schon siamesische Zwillinge gewesen, das war zu meiner Zeit so, das war zu Zeiten, in denen meine Töchter diese Schulart besuchten so. Und das ist heute auch noch so. Was sich geändert hat, ist die wachsende Unbedingtheit von Nachhilfe für den Schulerfolg und dass sie daher auch schon so etwas wie state of the art geworden ist. All jene, die es in der Volksschule geschafft haben, die nötigen Noten zu bekommen, sind ohnehin schon lern-geeicht. In der Regel werden diese Leistungen dann erreicht, wenn der junge Mensch durch Eltern, Lernbegleiter oder auch Nachhilfe unterstützt wird. Das ganze intensiviert sich dann nochmals mit dem Wechsel an die AHS. Und spätestens hier stellt sich die Frage: Warum gelingt es der Institution Schule nicht, da sie doch junge Menschen so viele Stunden täglich unterrichtet (in der 4. Klasse Volksschule sind es in Summe immerhin 24, in der 1. Klasse AHS 30 Wochenstunden) und ihnen dann auch noch Hausübungen aufgibt (die auch noch mehr als 1 Stunde pro Nachmittag in Anspruch nehmen), den Lern- und damit Prüfungserfolg sicherzustellen? Warum also brauchen SchülerInnen Nachhilfe, die ihnen – wie im angeführten Beispiel – auch dringend und drängend ans Herz gelegt wird? Sowohl Hirnforscher als auch Lerntheoretiker wissen, dass dauerhaft nur behalten wird, was wirklich von Interesse ist. Was aber interessiert junge Menschen im AHS-Alter? Wenn man sie dazu befragt, dann wissen die wenigsten eine Antwort darauf, meist sprechen sie dann von Freizeitaktivitäten oder Musik. Diese scheinbare Interessenlosigkeit ist aber die Folge eines immer früher einsetzenden Curriculums, das vorgibt, was wann von Interesse zu sein hat bzw. was wann gelernt und gewusst werden muss. Auf diese Weise werden junge Menschen, die schulischen Erfolg haben wollen, vom ersten Schultag an schlicht und einfach bevormundet. Durch Bildungsrahmenpläne in der Elementarpädagogik wird das schulische System nun noch weiter vorverlegt, zumindest im letzten Kindergartenjahr beginnt der „Schulstress“. Ist es dann ein Wunder, dass sich das Gehirn in einem Selbstreinigungsprozess spätestens nach der Prüfung des gesamten Wissens – so es nicht das Interesse des Lernenden gefunden hat – entledigt und es schnellstmöglich vergisst? Ist es ein Wunder, dass das Gehirn der meisten Lernenden schon bei der Lehrstoffaufnahme streikt und sich gegen das Gemästet-Werden mit Sinnlosem, oft totem Wissen, das nichts mit dem eigenen Leben zu tun hat, wehrt? So lange diese Mechanismen mit Nachhilfe bekämpft werden, wird ein stetig wachsender Wirtschaftszweig gute Umsätze und noch bessere Gewinne erzielen. An der Lernleistung wird sich in der Regel allerdings kaum etwas ändern, möglicherweise aber am Charakter der auf diese Weise Vergewohltätigten. Bessere Menschen werden sie dadurch jedenfalls keine. Da gäbe es andere, wesentlichere Bereiche, für deren Erfahren und Erleben aufgrund des schulisch geprägten Lernens kein Platz im Leben der Heranwachsenden ist. Das ist eine weitere Katastrophe. Wie lange noch werden Eltern dabei zusehen und sogar in rauen Mengen Geld ausgeben, um diesen Missstand aufrecht zu erhalten? Wie lange noch werden Kindeswohl und Kinderrechte aus der Sicht von Erwachsenen definiert ohne auch nur einen Moment jene zu Wort kommen zu lassen, die davon betroffen sind? Ihr Nein dazu tun die Betroffenen in der Regel nicht verbal kund, sondern durch „Schulversagen“ oder Verhaltensauffälligkeiten. Aber auch dafür haben wir Namen und Therapien gefunden, um die jungen Menschen gefügig zu machen. Sie sollen ja funktionieren lernen, notfalls auch mit Hilfe von Medikamenten. Diese Haltung aber führt unsere Gesellschaft Schritt für Schritt in den Abgrund. Die Anfänge werden dieser Tage bereits immer öfter beklagt …
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Für meine Studio-Diskussion in meiner Sendung "Nie mehr Schule" auf Radio Orange am heutigen Montag war ich mehr als 2 Wochen lang auf der Suche nach einem Juristen, einer Juristin, die den (kinder-)rechtlichen Aspekt der Diskussion eines "Frei-sich-Bildens" ohne Schulzwang abdecken könnte.
Es war ein langer, "leidvoller" Weg von der Uni Wien über das Ludwig-Boltzmann-Institut für Menschenrechte hin zu UNESCO, UNICEF und schließlich Kinder- und Jugendanwaltschaft der Stadt Wien. Letztlich kam keinE VertreterIn aus dieser Gruppe in die Sendung. Für die einen gab es Terminprobleme, die anderen sahen das Problem aufgrund des weltweit horrenden Analphabethismus als "Luxus" an und die eingeladene Kinderanwältin wurde am Sendungstag krank. Von ihrem Sekretariat bekam ich den Tipp, mich an die Leiterin des Schulpsychologischen Dienstes des Stadtschulrates für Wien zu wenden. Nachdem ich mehrmals verbunden wurde und eine weitere Sekretariatskraft mich an die Pressestelle des Stadtschulrates weiterleitete um eine Genehmigung für den öffentlichen Auftritt der genannten Person einzuholen, da ließ ich mein Ansinnen fallen. Waren wir halt nur zu viert: Bertrand Stern, eine Mutter, eine Lehrerin und eine SchülerInnen-Vertreterin. Erst nach diesem montäglichen Telefon-Marathon wurde mir bewusst, was sich da in den letzten Wochen abgespielt hatte. Da wollte es der Zufall, dass ich vom Staatsrechtler, über die Menschenrechtler zu den Kinderrechtlern und von dort direkt in der Schulpsychologie landete. Kafkaesk! Aber auch symptomatisch. Denn wie viele junge Menschen werden psychiatriert, medikalisiert oder sogar kriminalisiert, wenn sie NEIN zum Unterricht in der Schule sagen. Und wie viele Menschen, die dieses NEIN hören werden ebenfalls kriminalisiert und neben Verwaltungsstrafen für die Verletzung der Schulpflicht sogar mit Sorgerechtsentzug bedroht. So kann das und darf das nicht weitergehen. Diese Missachtung des Subjektstatus eines jeden Menschen - auch eines jungen -, der in der Deklaration der Menschenrechte und in der Kinderrechtskonvention als unantastbar festgehalten ist, ist das wahre Verbrechen. Und so geht es, bei all den täglichen juristischen Ärgernissen, denen man sich aussetzt, wenn man einen anderen Weg einschlägt, vor allem darum, dieses grundlegende Menschenrecht einzufordern - und wenn, es nicht respektiert wird, auch bei den entsprechenden Gerichten einzuklagen. Also: Let's do so! Let's go! Seit geraumer Zeit ringe ich mit dem Begriff "Kindheit". Mit dem Begriff "Mädchen" geht mir das schon länger so, da die deutsche Grammatik junge Frauen zu Sachen macht. Bertrand Stern hat in seinem Sommergespräch mit mir auf Radio Orange die Begriffe Schule, Lernen und Kind reflektiert und kritisch betrachtet. Das hat mich wieder einmal nachdenklich gemacht.
Nun stehe ich bereits am Ende der ersten Schulwoche im Osten Österreichs (der Westen startet ja erst am kommenden Montag in den Alltag)wieder mitten im schon verdrängten "Kinder"-Wahn. Diese jungen Menschen werden von ihren Bezugspersonen - und damit auch von vielen LehrerInnen - als klein und unmündig angesehen. Dementsprechend fällt dann auch das Zusammenleben aus, in dem sie andauernd belehrt werden, wie sie was zu machen hätten. Dann darf man sich nicht wundern, wenn sie überhaupt keine Eigeninitiative mehr entwickeln und nur noch auf Anweisung funktionieren. Abgesehen davon ist das von Unterrichtenden oft kritisierte "Tratschen" jedenfalls auch immer der Versuch, sich das gerade "Durchgenommene" mit eigenen Worten anzueignen. In der Lerntypenforschung werden jene auch "verbaler Lerntyp" genannt. Junge Menschen als "Kinder" zu bezeichnen ist meiner Ansicht nach Fluch und Segen, wobei meiner Meinung nach die Nachteile eindeutig überwiegen. Einerseits bedeutet es Schutz für die Heranwachsenden, andererseits gesteht man ihnen damit - auch grammatisch - keinen Subjekt-Status zu. "Das" Kind wird auf dieser Weise auch zu einem von Erwachsenen abhängigen Objekt degradiert, für die die Erklärung der Menschenrechte nur eingeschränkt gilt. Als solche Einschränkung könnte man die Kinderrechtskonvention missverstehen. Aber: sie formuliert die Menschenrechte aus der spezifischen Perspektive von Kindern und ist so gesehen deren Vertiefung für den Umgang von Erwachsenen mit den Heranwachsenden. Das "best interest of the child" - ins Deutsche mit dem Begriff "Kindeswohl" übertragen - ist demnach vorrangig zu berücksichtigen. Auch hier kommt es zu vielen Missverständnissen - wie etwa Anzeigen des Stadtschulrates gegen Freilerner-Eltern bezeugen, die in der Verletzung der Schulpflicht eine Kindeswohlgefährdung erkennen, die übrigens auch durch kein Gesetz zu rechtfertigen ist - und schon gar nicht mit der angesprochenen Kinderrechtskonvention. Soweit allerdings muss man gar nicht gehen, wenn man den Alltag von jungen Menschen betrachtet. Denn auch das derzeit herrschende Bildungssystem zwingt sie in den Objekt-Status von Zwangsbeschulten, die zu klein oder zu unentwickelt, ja sogar unterentwickelt sind, um sich frei um ihre Bildung zu kümmern. Sicher brauchen sie unter anderem - wie wir alle von Zeit zu Zeit -Menschen die sie begleiten und ihnen die Möglichkeiten aufzeigen, wie sie ihre Neugier und ihren Wissensdurst stillen können. Dazu aber dient der Unterricht keineswegs. Hier werden sie systematisch für dumm verkauft - damit sie gute "Untertanen" werden. Oder wie es Reinhard Mey in seinem Lied "Sei wachsam" treffend formuliert: "Der Minister nimmt flüsternd den Bischof beim Arm: Halt du sie dumm, – ich halt’ sie arm!" |
Michael Karjalainen-Dräger
diplomierter Pädagoge und Bachelor of Education war 10 Jahre im öffentlichen Schulwesen in Wien als Lehrer tätig, danach 3 Jahre lang Leiter einer von ihm gegründeten "freien" Schule in Niederösterreich. Seit 2013 trainiert er Menschen, die jungen Menschen freie Bildungs-Räume öffnen wollen. Kategorien
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March 2020
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