Seit geraumer Zeit ringe ich mit dem Begriff "Kindheit". Mit dem Begriff "Mädchen" geht mir das schon länger so, da die deutsche Grammatik junge Frauen zu Sachen macht. Bertrand Stern hat in seinem Sommergespräch mit mir auf Radio Orange die Begriffe Schule, Lernen und Kind reflektiert und kritisch betrachtet. Das hat mich wieder einmal nachdenklich gemacht.
Nun stehe ich bereits am Ende der ersten Schulwoche im Osten Österreichs (der Westen startet ja erst am kommenden Montag in den Alltag)wieder mitten im schon verdrängten "Kinder"-Wahn. Diese jungen Menschen werden von ihren Bezugspersonen - und damit auch von vielen LehrerInnen - als klein und unmündig angesehen. Dementsprechend fällt dann auch das Zusammenleben aus, in dem sie andauernd belehrt werden, wie sie was zu machen hätten. Dann darf man sich nicht wundern, wenn sie überhaupt keine Eigeninitiative mehr entwickeln und nur noch auf Anweisung funktionieren. Abgesehen davon ist das von Unterrichtenden oft kritisierte "Tratschen" jedenfalls auch immer der Versuch, sich das gerade "Durchgenommene" mit eigenen Worten anzueignen. In der Lerntypenforschung werden jene auch "verbaler Lerntyp" genannt. Junge Menschen als "Kinder" zu bezeichnen ist meiner Ansicht nach Fluch und Segen, wobei meiner Meinung nach die Nachteile eindeutig überwiegen. Einerseits bedeutet es Schutz für die Heranwachsenden, andererseits gesteht man ihnen damit - auch grammatisch - keinen Subjekt-Status zu. "Das" Kind wird auf dieser Weise auch zu einem von Erwachsenen abhängigen Objekt degradiert, für die die Erklärung der Menschenrechte nur eingeschränkt gilt. Als solche Einschränkung könnte man die Kinderrechtskonvention missverstehen. Aber: sie formuliert die Menschenrechte aus der spezifischen Perspektive von Kindern und ist so gesehen deren Vertiefung für den Umgang von Erwachsenen mit den Heranwachsenden. Das "best interest of the child" - ins Deutsche mit dem Begriff "Kindeswohl" übertragen - ist demnach vorrangig zu berücksichtigen. Auch hier kommt es zu vielen Missverständnissen - wie etwa Anzeigen des Stadtschulrates gegen Freilerner-Eltern bezeugen, die in der Verletzung der Schulpflicht eine Kindeswohlgefährdung erkennen, die übrigens auch durch kein Gesetz zu rechtfertigen ist - und schon gar nicht mit der angesprochenen Kinderrechtskonvention. Soweit allerdings muss man gar nicht gehen, wenn man den Alltag von jungen Menschen betrachtet. Denn auch das derzeit herrschende Bildungssystem zwingt sie in den Objekt-Status von Zwangsbeschulten, die zu klein oder zu unentwickelt, ja sogar unterentwickelt sind, um sich frei um ihre Bildung zu kümmern. Sicher brauchen sie unter anderem - wie wir alle von Zeit zu Zeit -Menschen die sie begleiten und ihnen die Möglichkeiten aufzeigen, wie sie ihre Neugier und ihren Wissensdurst stillen können. Dazu aber dient der Unterricht keineswegs. Hier werden sie systematisch für dumm verkauft - damit sie gute "Untertanen" werden. Oder wie es Reinhard Mey in seinem Lied "Sei wachsam" treffend formuliert: "Der Minister nimmt flüsternd den Bischof beim Arm: Halt du sie dumm, – ich halt’ sie arm!"
0 Comments
Your comment will be posted after it is approved.
Leave a Reply. |
Michael Karjalainen-Dräger
diplomierter Pädagoge und Bachelor of Education war 10 Jahre im öffentlichen Schulwesen in Wien als Lehrer tätig, danach 3 Jahre lang Leiter einer von ihm gegründeten "freien" Schule in Niederösterreich. Seit 2013 trainiert er Menschen, die jungen Menschen freie Bildungs-Räume öffnen wollen. Kategorien
All
Archiv
March 2020
|