Heute morgen am Bahnhof Hütteldorf:
Eine Schulklasse von rund 15 etwa 13- oder 14-jährigen jungen Menschen wird von einer jungen Lehrerin (geschätzte Anfang 20) dazu aufgefordert eine Reihe zu bilden. Der "wilde Haufen" allerdings setzt sich nur mühsam in Bewegung um die gewünschte Form anzunehmen. Bei der Lehrerin wächst die Ungeduld im Sekundentakt, sie versucht die Jugendlichen zu "motivieren" ihre Anweisung endlich auszuführen. Dazu fallen unter anderem folgende Worte: "Das ist noch immer keine Reihe!" "Das kann dich bitte ned so schwer sein!" "Hey, wie alt seid's ihr eigentlich?" "Das kann doch bitte nicht wahr sein...!" Es ging sicher noch eine Weile weiter so, aber ich überließ die Truppe dann sich selbst und weiß daher nicht wie die Geschichte ausgegangen ist - und ob sie möglicherweise verbal eskaliert ist. Meiner Erfahrung und Einschätzung nach gab es irgendwann dann eine Einigung auf eine Mehr-oder-Weniger-Reihe und alle starteten angeführt von ihrer Lehrerin, der es dann ziemlich egal war, was sich ab da hinter ihrem Rücken abspielte. Wie oft war auch ich in ähnlichen Situationen als ich noch dem Schuldienst frönte. Wie oft habe ich mich wirklich grässlich unwohl gefühlt, weil ich da zwingen musste - junge Menschen und mich selbst. "Mit sanfter Gewalt", hat mir damals eine ältere Kollegin gesagt, "sonst geht gar nix". Heute bin ich ob dieser Worte aber vor allem wegen dieser - auch meiner - "gewaltvollen" Vorgangsweise sehr betroffen. Dabei könnten es sich alle Beteiligte um so vieles einfacher machen, sie müssten weder sich noch andere zu etwas zwingen, was diese in jenem Moment nicht wollen. Und auch die Frage, die ich mir immer wieder gestellt habe, nämlich "Warum hört mir denn niemand zu?", wäre obsolet. Wie das? Ganz einfach: Wir nehmen jeden Menschen als freies Subjekt wahr, nehmen dessen JA und dessen NEIN ernst, lassen auf diese Weise jeglichen Zwang hinter uns. Ganz einfach? Nun ja, ich gebe zu, dass dies eine völlige Veränderung unseres bisherigen Bewusstseins fordert. Aber es ist möglich! Wie viele Unmöglichkeiten und Undenkbarkeiten sind heute Realität? Wie war das mit den Frauen, die lange noch als Objekte im Besitz ihrer Ehemänner standen? Bis in die beginnenden Siebziger des 20. Jahrunderts mussten sie die Erlaubnis ihrer Männer einholen, wenn sie einen Pass beantragen oder arbeiten gehen wollten. Und das war nicht im fernen von uns wegen der Nichteinhaltung der Menschenrechte oft gescholtenen Orient, sondern hier in Österreich! Und heute? Na eben, ganz einfach! Es braucht sicher Zeit bis es alle begreifen, dass Schulunterricht in der heutigen Form keinen Vorteil bringt sondern nur Nachteile, weil er Zwang auslöst - bei allen Beteiligten (also LehrerInnen, SchülerInnen, Eltern und Behörden). Veränderungen dieser Dimension gehen immer von den Betroffenen selbst aus, in dem sie sich den herrschenden Regeln verweigern, den zivilen Ungehorsam pflegen und ihren eigenen Weg finden. Wer heute das NEIN seiner Tochter, seines Sohnes oder seiner SchülerIn respektiert, wird erstaunt sein, wie sich vor ihm plötzlich und ungeahnt wunderbare Landschaften einer freien Bildung auftun. Denn nur wer sich auf den Weg macht, wird neues entdecken. Nutzen wir den Schwung des 1. Nie-mehr-Schule-Aktionstages vom vergangenen Montag und breche jedeR an ihrer/seiner Stelle auf in eine frei-sich-bildende Gesellschaft. Niemand muss sich alleine fühlen, denn gerade eben entsteht das wunderbare Netzwerk freier Bildungs-Räume, das jedeR gerne jederzeit nutzen kann!
8 Comments
oha
23/9/2015 18:24:47
Okay, die lehrerin hätte also "das nein" akzeptieren sollen - und dann? Wie wäre es weiter gegangen? wie kommt sie alternativ zur schule / ihrem ziel? Und soll ein nein auch akzeptiert werden müssen, wenn es dafür zb die Gefahr im straßenverkehr erhöhen würde? Gespannt auf eine antwort wartend,
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Heidi
23/9/2015 21:45:58
Hallo Oha,
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Michael Karjalainen-Dräger
24/9/2015 10:37:14
Die von Ihnen zuletzt gestellte Frage halte ich für die entscheidende! Ich denke, dass diese den SchhülerInnen nicht gestellte Frage in dieses Schlamassel geführt hat, in dem sich dann alle bloß gezwungen fühlen. Daher: einen anderen Weg einschlagen, in dem die Wissbegierigen von den Wissenden auf Nachfrage Antwort erhalten.
Michael Karjalainen-Dräger
24/9/2015 10:34:55
Den Beitrag habe ich nicht geschrieben, um die Lehrerin zu kritisieren. Auch sie ist ein Opfer der strukturellen Gewalt des Schulsystems. Es wäre viel, viel besser für alle Beteiligten, wenn sie nicht gezwungen wären, einem Curriculum in einer Schulklasse mit Gleichaltrigen folgen zu müssen. Es geht um "nachfrageorientierte" Bildung. Die Wissbegierigen erhalten auf ihre Frage von Wissenden Antwort. Eine Entlastung für alle Beteiligten ...
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Heidi
24/9/2015 11:59:22
Lieber Michael!
Michael Karjalainen-Dräger
24/9/2015 19:46:49
Liebe Hedi! Dein/euer konsequenter Weg freut mich, denn als PionierInnen habt ihr zwar erheblich größere Herausforderungen aber ihr seid einfach die Wegbereiter für die Bildung der Zukunft. Irgendwann einmal - in hoffentlich schon naher Zukunft - wird sich kein Mensch mehr vorstellen können, dass es diese Art der Zwangsbeschulung gab und dass sich Menschen unter diesen Bedingungen gebildet haben.
Heidi
24/9/2015 20:15:00
Danke, Michael!
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Michael Karjalainen-Dräger
25/9/2015 07:40:28
Das freut mich Hedi, dass du dabei bist. Ich geb mein bestes!
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Michael Karjalainen-Dräger
diplomierter Pädagoge und Bachelor of Education war 10 Jahre im öffentlichen Schulwesen in Wien als Lehrer tätig, danach 3 Jahre lang Leiter einer von ihm gegründeten "freien" Schule in Niederösterreich. Seit 2013 trainiert er Menschen, die jungen Menschen freie Bildungs-Räume öffnen wollen. Kategorien
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